Eine hierauf bezogene Abmahnung muss aber eine Warnfunktion erfüllen. D.h., dass in der Abmahnung klar und deutlich stehen muss, welche Verhaltensweisen der Arbeitgeber erwartet. Andernfalls kann auf dieser Grundlage bei Wiederholung nicht gekündigt werden.
BUNDESARBEITSGERICHT Urteil vom 23.6.2009, 2 AZR 283/08
Abmahnung - Warnfunktion
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts
Niedersachsen vom 18. Dezember 2007 - 11 Sa 372/07 - wird auf Kosten der
Beklagten zurückgewiesen.
Tatbestand
1 Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer von der Beklagten auf verhaltensbedingte
Gründe gestützten ordentlichen Kündigung.
2 Der 1944 geborene Kläger trat 1965 in die Dienste der beklagten Presseagentur. Er war als
Fotograf, lange Zeit auch als Leiter eines Bildbüros beschäftigt.
3 Die Beklagte sprach gegenüber dem Kläger am 23. September 2004 eine Abmahnung aus, mit
der sie ihm vorwarf, ein Fernsehinterview gestört zu haben. Das Landesarbeitsgericht
Niedersachsen verurteilte die Beklagte zur Herausnahme dieser Abmahnung aus der
Personalakte, weil der gegen den Kläger erhobene Vorwurf nicht klar und bestimmt genug in der
Abmahnung beschrieben sei (4. September 2006 - 11 Sa 1318/05 -). Eine weitere Abmahnung
sprach die Beklagte am 15. September 2005 aus, weil der Kläger sich bei einem Empfang der
Stadt G gegenüber mehreren Personen unangemessen geäußert habe. Die Beklagte wurde
vom Landesarbeitsgericht Niedersachsen rechtskräftig zur Herausnahme auch dieser
Abmahnung aus der Personalakte verurteilt (18. Dezember 2007 - 11 Sa 384/07 -).
4 Der hier streitigen Kündigung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Am 22. November 2005 war
in der Nähe des Bahnhofs H eine Lokomotive entgleist. Der Kläger suchte die Unfallstelle auf,
um Fotos zu machen. An dem auf freier Strecke gelegenen Unglücksort anwesende Polizisten
forderten den Kläger auf sich auszuweisen. Er gab sich mündlich als Fotojournalist zu erkennen,
zeigte seinen Presseausweis jedoch nicht vor. Die Polizisten forderten ihn daraufhin auf, den
Gleisbereich zu verlassen, was der Kläger auch tat. Seine Aufnahmen hatte er zu diesem
Zeitpunkt schon gemacht; sie wurden auch veröffentlicht. Mit E-Mail vom 28. Februar 2006 teilte
die Pressestelle des zuständigen Bundespolizeiamtes der Beklagten den Sachverhalt mit. Da
der Kläger den Ort zunächst nicht freiwillig verlassen habe, sei ein Platzverweis ausgesprochen
worden, dem er nachgekommen sei. Die E-Mail schließt mit dem Satz: „Mit Verlassen der
Unfallstelle war der Vorgang für uns erledigt.“
5 Mit Schreiben vom 23. März 2006 bat die Beklagte den Betriebsrat um Zustimmung zur
beabsichtigten ordentlichen Kündigung des Klägers. Dabei teilte sie den Vorfall
„Eisenbahnunglück“ mit, nicht jedoch den Abschlusssatz aus der E-Mail des Bundespolizeiamtes. Der Betriebsrat erklärte am 27. März 2006 seine Zustimmung. Daraufhin
sprach die Beklagte mit Schreiben vom 27. März 2006 die streitgegenständliche Kündigung aus.
6 Der Kläger hält die Kündigung für unwirksam. Der Betriebsrat sei nicht ordnungsgemäß
angehört worden, weil die Beklagte ihm den letzten Satz aus der E-Mail der Bundespolizei
vorenthalten habe. Er habe sich nicht vertragswidrig, sondern allenfalls ungebührlich verhalten.
Das rechtfertige umso weniger eine Kündigung, als er seit 1965 beschäftigt sei, in seinem Alter
keine adäquate neue Beschäftigung finden könne und wirksame Abmahnungen nicht
ausgesprochen worden seien.
7 Der Kläger hat beantragt
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung vom 27. März
2006, dem Kläger zugestellt am 30. März 2006, nicht beendet worden ist.
8 Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und geltend gemacht, der Betriebsrat sei
ordnungsgemäß angehört worden. Durch sein Verhalten bei dem Eisenbahnunglück habe der
Kläger seine Vertragspflichten verletzt. Er sei auch zweimal einschlägig abgemahnt worden.
Zwar sei rechtskräftig festgestellt, dass die Abmahnungen vom 23. September 2004 und vom
15. September 2005 aus der Personalakte zu entfernen seien. Doch habe die Beklagte zweimal
wegen Verletzungen desselben Pflichtenkreises gegenüber dem Kläger Abmahnungen
ausgesprochen. Auch eine in ihrer Berechtigung bestrittene Abmahnung könne die erforderliche
Warnfunktion erfüllen.
9 Das Arbeitsgericht hat nach dem Klageantrag erkannt. Das Landesarbeitsgericht hat die
Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Bundesarbeitsgericht zugelassenen
Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Klageabweisung weiter.
Entscheidungsgründe
10 Die Revision ist unbegründet. Die Kündigung der Beklagten hat das Arbeitsverhältnis der
Parteien nicht aufgelöst.
11 I. Die Kündigung ist sozial ungerechtfertigt iSd. § 1 KSchG, weil sie nicht durch Gründe iSd. § 1
Abs. 2 Satz 1 KSchG bedingt ist. Die von der Beklagten vorgetragenen Tatsachen rechtfertigen
nicht den Schluss, es lägen verhaltensbedingte Kündigungsgründe iSd. § 1 Abs. 2 KSchG vor.
12 1. Eine Kündigung aus Gründen im Verhalten des Arbeitnehmers iSv. § 1 Abs. 2 KSchG ist
sozial gerechtfertigt, wenn der Arbeitnehmer mit dem ihm vorgeworfenen Verhalten eine
Vertragspflicht - idR schuldhaft - erheblich verletzt, das Arbeitsverhältnis konkret beeinträchtigt
wird, eine zumutbare Möglichkeit anderer Beschäftigung nicht besteht und die Lösung des
Arbeitsverhältnisses in Abwägung der Interessen beider Vertragsteile billigenswert und
angemessen erscheint (st. Rspr., vgl. Senat 13. Dezember 2007 - 2 AZR 818/06 - Rn. 37, AP
KSchG 1969 § 4 Nr. 64 = EzA KSchG § 4 nF Nr. 82; 31. Mai 2007 - 2 AZR 200/06 - zu B II 1
der Gründe, AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 57 = EzA KSchG § 1
Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 71).
13 a) Auch die schwerwiegende Verletzung von vertraglichen Nebenpflichten, wie sie hier in Rede
steht, kann einen verhaltensbedingten Kündigungsgrund darstellen und den Arbeitgeber im
Einzelfall sogar zur außerordentlichen Kündigung berechtigen (Senat 12. März 2009 - 2 ABR
24/08 -; 19. April 2007 - 2 AZR 78/06 - AP BGB § 611 Direktionsrecht Nr. 77; 2. März 2006 -
2 AZR 53/05 - AP BGB § 626 Krankheit Nr. 14 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 16; BAG 15. Januar
1986 - 7 AZR 128/83 - AP BGB § 626 Nr. 93 = EzA BGB § 626 nF Nr. 100).
14 b) Für eine verhaltensbedingte Kündigung gilt das Prognoseprinzip. Der Zweck der Kündigung ist nicht eine Sanktion für eine begangene Vertragspflichtverletzung, sondern die Vermeidung
des Risikos weiterer erheblicher Pflichtverletzungen. Die vergangene Pflichtverletzung muss
sich deshalb noch für die Zukunft belastend auswirken (st. Rspr., vgl. Senat 13. Dezember
2007 - 2 AZR 818/06 - Rn. 38, AP KSchG 1969 § 4 Nr. 64 = EzA KSchG § 4 nF Nr. 82; 31. Mai
2007 - 2 AZR 200/06 - zu B II 1 der Gründe, AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte
Kündigung Nr. 57 = EzA KSchG § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 71). Eine negative
Prognose liegt vor, wenn aus der konkreten Vertragspflichtverletzung und der daraus
resultierenden Vertragsstörung geschlossen werden kann, der Arbeitnehmer werde auch
zukünftig den Arbeitsvertrag nach einer Kündigungsandrohung erneut in gleicher oder ähnlicher
Weise verletzen (Senat 13. Dezember 2007 - 2 AZR 818/06 - aaO). Deshalb setzt eine
Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung regelmäßig eine vorausgegangene
einschlägige Abmahnung voraus. Diese dient der Objektivierung der negativen Prognose. Liegt
eine ordnungsgemäße Abmahnung vor und verletzt der Arbeitnehmer erneut seine
vertraglichen Pflichten, kann regelmäßig davon ausgegangen werden, es werde auch zukünftig
zu weiteren Vertragsstörungen kommen (Senat 13. Dezember 2007 - 2 AZR 818/06 - aaO).
Außerdem ist die Abmahnung als milderes Mittel in Anwendung des
Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (vgl. zum zivilrechtlichen Übermaßverbot: v. Hoyningen-
Huene/Linck KSchG 14. Aufl. § 1 Rn. 479; zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: Eichenhofer
NJW 2008, 2828) einer Kündigung vorzuziehen, wenn durch ihren Ausspruch das Ziel -
ordnungsgemäße Vertragserfüllung - erreicht werden kann (vgl. HaKo/Fiebig 3. Aufl. § 1
Rn. 312).
15 2. Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, dass die vorstehend bezeichneten
Voraussetzungen nicht vollständig gegeben sind, ist im Ergebnis revisionsrechtlich nicht zu
beanstanden.
16 a) Gut nachvollziehbar ist die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, dass der Kläger mit
seinem Verhalten bei dem Eisenbahnunglück im November 2005 gegen seine dienstlichen
Pflichten verstoßen hat. Dass das an den Kläger gerichtete Verlangen der Polizeikräfte, er
möge seinen Presseausweis vorzeigen, rechtswidrig oder auch nur irgendwie unangemessen
in der Sache oder in der Form gewesen wäre, macht der Kläger selbst nicht geltend. Auch die
Rechtmäßigkeit des ihm gegenüber ausgesprochenen Platzverweises stellt der Kläger nicht in
Abrede. Wenn die Beklagte im Übrigen auf ein höfliches und korrektes Verhalten ihrer
Bildberichterstatter Wert legt, so steht dies im Einklang mit dem Pressekodex des deutschen
Presserats.
17 b) Revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist auch, dass das Landesarbeitsgericht das
Vorliegen einer einschlägigen Abmahnung für erforderlich gehalten hat.
18 aa) Allerdings kann eine Abmahnung bei schweren Pflichtverletzungen entbehrlich sein. Bei
einer schweren Pflichtverletzung ist nämlich regelmäßig dem Arbeitnehmer die
Rechtswidrigkeit seines Handelns ohne Weiteres genauso erkennbar, wie der Umstand, dass
eine Hinnahme des Verhaltens durch den Arbeitgeber offensichtlich ausgeschlossen ist (st.
Rspr., vgl. Senat 31. Mai 2007 - 2 AZR 200/06 - AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte
Kündigung Nr. 57 = EzA KSchG § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 71; 12. Januar 2006 -
2 AZR 179/05 - AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 54 = EzA KSchG § 1
Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 68).
19 bb) Ein solcher Fall lag jedoch nicht vor. Zum einen handelte es sich um eine vertragliche
Nebenpflicht. Das Arbeitsverhältnis als Austauschverhältnis war nicht beeinträchtigt: Der Kläger
hat seine Arbeit getan. Die Beklagte hat die Ergebnisse dieser Arbeit, im konkreten Fall die
Bilder vom Unfallort, nutzen können und auch tatsächlich genutzt. Zum andern ist die von der
Revision ins Feld geführte „grundsätzliche“ Eignung des Verhaltens zur Rufschädigung und
langfristigen Geschäftsbeeinträchtigung nicht ausreichend. Dass die Beziehung der Beklagten
zur Bundespolizei konkret Schaden genommen hätte, trägt die Beklagte selbst nicht vor.
Dagegen spricht auch der Schlusssatz der E-Mail vom 28. Februar 2006, nach dem der
Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, die beiden Abmahnungen von 2004 und 2005
hätten die Erfordernisse einer kündigungsrechtlich verwertbaren Abmahnung nicht erfüllt, ist im
Ergebnis nicht zu beanstanden.
21 aa) Ob eine Abmahnung ausnahmsweise auch dann die kündigungsrechtliche Warnfunktion
erfüllen kann, wenn sie in der Sache nicht gerechtfertigt ist, braucht der Senat nicht zu
entscheiden. Voraussetzung wäre jedenfalls, dass der Arbeitnehmer aus der unberechtigten
Abmahnung erkennen kann, welches Verhalten der Arbeitgeber erwartet und welches
Fehlverhalten er als so schwerwiegend ansieht, dass es ihm aus seiner Sicht Anlass zur
Beendigung des Arbeitsverhältnisses geben werde (KR/Fischermeier 8. Aufl. § 626 BGB
Rn. 275; Schunck NZA 1993, 828; LAG Köln 5. Februar 1999 - 11 Sa 565/98 - MDR 1999, 877;
LAG Nürnberg 16. Oktober 2007 - 7 Sa 233/07 - LAGE BGB 2002 § 626 Nr. 14).
22 bb) Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben. Die Abmahnung von September 2004
benennt bereits kein konkret als Pflichtverletzung abgrenzbares Geschehen. Die Abmahnung
von September 2005 beschreibt zwar den Tatsachenstoff, den die Beklagte als
Vertragsverstoß wertet, teilt aber den Inhalt der von der Beklagten als verletzt angesehenen
Vertragspflicht nicht hinreichend deutlich mit. Jedenfalls konnte der Kläger der Abmahnung
nicht - anwendbar auf den Kündigungssachverhalt - entnehmen, was er nach Meinung der
Beklagen „tun und lassen“ sollte.
23 II. Ob, wie das Landesarbeitsgericht angedeutet hat, die Kündigung auch nach § 102 BetrVG
unwirksam war, weil die Beklagte dem Betriebsrat den Schlusssatz aus der E-Mail der
Bundespolizei vorenthalten hat, kann somit dahinstehen.
24 III. Die Kosten der erfolglos bleibenden Revision fallen der Beklagten nach § 97 Abs. 1 ZPO zur
Last.
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