Freitag, 7. Januar 2011

Emmely


BUNDESARBEITSGERICHT Urteil vom 10.6.2010, 2 AZR 541/09
Fristlose Kündigung - Interessenabwägung - Abmahnung - Fall "Emmely" 
Leitsätze
1. Rechtswidrige und vorsätzliche Handlungen des Arbeitnehmers, die sich unmittelbar gegen das
Vermögen des Arbeitgebers richten, können auch dann ein wichtiger Grund zur außerordentlichen
Kündigung sein, wenn die Pflichtverletzung Sachen von nur geringem Wert betrifft oder nur zu einem
geringfügigen, möglicherweise gar keinem Schaden geführt hat.
2. Das Gesetz kennt auch im Zusammenhang mit strafbaren Handlungen des Arbeitnehmers keine
absoluten Kündigungsgründe. Es bedarf stets einer umfassenden, auf den Einzelfall bezogenen
Prüfung und Interessenabwägung dahingehend, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des
Arbeitsverhältnisses trotz der eingetretenen Vertrauensstörung - zumindest bis zum Ablauf der
Kündigungsfrist - zumutbar ist oder nicht.
Tenor
1. Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts
Berlin-Brandenburg vom 24. Februar 2009 - 7 Sa 2017/08 - aufgehoben.
2. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin
vom 21. August 2008 - 2 Ca 3632/08 - abgeändert:
Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die
fristlose Kündigung, noch durch die hilfsweise erklärte ordentliche
Kündigung vom 22. Februar 2008 aufgelöst worden ist.
3. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Tatbestand

1 Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen
Kündigung.
2 Die 1958 geborene Klägerin war seit April 1977 bei der Beklagten und deren
Rechtsvorgängerinnen als Verkäuferin mit Kassentätigkeit beschäftigt.
3 Die Beklagte ist ein überregional vertretenes Einzelhandelsunternehmen. In einigen ihrer
Filialen, so auch in der Beschäftigungsfiliale der Klägerin, besteht die Möglichkeit, Leergut an
einem Automaten gegen Ausstellung eines Leergutbons zurückzugeben. Wird ein solcher Bon
an der Kasse eingelöst, ist er von der Kassiererin/dem Kassierer abzuzeichnen. Mitarbeiter
der Filiale sind angewiesen, mitgebrachtes Leergut beim Betreten des Markts dem Filialleiter
vorzuzeigen und einen am Automaten erstellten Leergutbon durch den Leiter gesondert
abzeichnen zu lassen, bevor sie den Bon an der Kasse einlösen. Dort wird er wie ein
Kundenbon ein weiteres Mal abgezeichnet. Diese Regelungen, die Manipulationen beim
Umgang mit Leergut ausschließen sollen, sind der Klägerin bekannt.
4 Im Herbst 2007 beteiligte sich die Klägerin mit weiteren sieben von insgesamt 36 Beschäftigten
ihrer Filiale an einem gewerkschaftlich getragenen Streik. Während die Streikbereitschaft
anderer Arbeitnehmer mit der Zeit nachließ, nahm die Klägerin bis zuletzt an den Maßnahmen
teil. Im Januar 2008 lud der Filialleiter Beschäftigte, die sich nicht am Arbeitskampf beteiligt
hatten, zu einer Feier außer Hause ein. Aus diesem Grund wurde er später von der Beklagten
abgemahnt und in eine andere Filiale versetzt.
5 Am 12. Januar 2008 fand eine Mitarbeiterin im Kassenbereich einer separaten Backtheke zwei
nicht abgezeichnete Leergutbons im Wert von 0,48 Euro und 0,82 Euro. Sie trugen das Datum
des Tages und waren im Abstand von ca. einer Dreiviertelstunde am Automaten erstellt
worden. Die Mitarbeiterin legte die Bons dem Filialleiter vor. Dieser reichte sie an die Klägerin
mit der Maßgabe weiter, sie im Kassenbüro aufzubewahren für den Fall, dass sich noch ein
Kunde melden und Anspruch darauf erheben würde; andernfalls sollten sie als „Fehlbons“
verbucht werden. Die Klägerin legte die Bons auf eine - für alle Mitarbeiter zugängliche und
einsehbare - Ablage im Kassenbüro.
6 Am 22. Januar 2008 kaufte die Klägerin in der Filiale außerhalb ihrer Arbeitszeit privat ein. An
der Kasse überreichte sie ihrer Kollegin zwei nicht abgezeichnete Leergutbons. Laut
Kassenjournal wurden diese mit Werten von 0,48 Euro und 0,82 Euro registriert. Beim
Kassieren war auch die Kassenleiterin und Vorgesetzte der Klägerin anwesend.
7 Zur Klärung der Herkunft der eingereichten Bons führte die Beklagte mit der Klägerin ab dem
25. Januar 2008 insgesamt vier Gespräche, an denen - außer am ersten Gespräch - jeweils
zwei Mitglieder des Betriebsrats teilnahmen. Sie hielt ihr vor, die eingelösten Bons seien nicht
abgezeichnet gewesen und stimmten hinsichtlich Wert und Ausgabedatum mit den im
Kassenbüro aufbewahrten Bons überein. Es bestehe der dringende Verdacht, dass sie - die
Klägerin - die dort abgelegten „Kundenbons“ an sich genommen und zu ihrem Vorteil
verwendet habe. Die Klägerin bestritt dies und erklärte, selbst wenn die Bons übereinstimmten,
bestehe die Möglichkeit, dass ihr entsprechende Bons durch eine ihrer Töchter oder durch
Dritte zugesteckt worden seien. Beispielsweise habe sie am 21. oder 22. Januar 2008 einer
Arbeitskollegin ihre Geldbörse ausgehändigt mit der Bitte, diese in ihren Spind zu legen. Die
Beklagte legte der Klägerin nahe, zur Untermauerung ihrer Behauptung eine eidesstattliche
Erklärung einer Tochter beizubringen. Außerdem befragte sie die benannte Kollegin, die die
Angaben der Klägerin bestritt. Beim letzten, am 15. Februar 2008 geführten Gespräch
überreichte die Klägerin eine schriftliche Erklärung, mit der eine ihrer Töchter bestätigte, bei der
Beklagten hin und wieder für ihre Mutter einzukaufen, dabei auch Leergut einzulösen und
„Umgang“ mit der Geldbörse ihrer Mutter „pflegen zu dürfen“.
8 Mit Schreiben vom 18. Februar 2008 hörte die Beklagte den Betriebsrat zu einer beabsichtigten
außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung, gestützt auf den Verdacht der Einlösung
der Bons, an. Der Betriebsrat äußerte Bedenken gegen die fristlose Kündigung, einer
ordentlichen Kündigung widersprach er und verwies auf die Möglichkeit einer gegen die
Klägerin gerichteten Intrige.
9 Mit Schreiben vom 22. Februar 2008 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis
außerordentlich fristlos, hilfsweise fristgemäß zum 30. September 2008.
10 Die Klägerin hat Kündigungsschutzklage erhoben. Sie hat behauptet, sie habe jedenfalls nicht
bewusst Leergutbons eingelöst, die ihr nicht gehörten. Sollte es sich bei den registrierten Bons
tatsächlich um die im Kassenbüro abgelegten Bons gehandelt haben, müsse auch die
Möglichkeit eines Austauschs der Bons während des Kassiervorgangs in Betracht gezogen
werden. Denkbares Motiv hierfür sei ihre Streikteilnahme, die ohnehin der wahre Grund für die
Kündigung sei. Anders sei nicht zu erklären, weshalb ihre Kollegin und die Vorgesetzte sie
- unstreitig - nicht bereits beim Kassieren oder unmittelbar anschließend auf die fehlende
Abzeichnung der überreichten Leergutbons angesprochen hätten. Angesichts der streikbedingt
aufgetretenen Spannungen unter den Filialmitarbeitern sei es lebensfremd anzunehmen, sie
habe ausgerechnet bei einer Kollegin, mit der sie im Streit gestanden habe, und in Anwesenheit
ihrer Vorgesetzten die im Kassenbüro verwahrten, nicht abgezeichneten Bons eingelöst. Die
Klägerin hat die Auffassung vertreten, eine Verdachtskündigung sei wegen der in Art. 6 Abs. 2
EMRK verankerten Unschuldsvermutung ohnehin unzulässig. Das gelte in besonderem Maße,
wenn sich der Verdacht auf die Entwendung einer nur geringwertigen Sache beziehe. Selbst
bei nachgewiesener Tat sei in einem solchen Fall ein wichtiger Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB
nicht gegeben. Zumindest sei in ihrem Fall die Kündigung in Anbetracht der Einmaligkeit des
Vorfalls und ihrer langen Betriebszugehörigkeit unangemessen, zumal der Beklagten kein
Schaden entstanden sei.
11
Die Klägerin hat beantragt
1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis weder durch die fristlose, noch durch
die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 22. Februar 2008 aufgelöst worden
ist;
2. die Beklagte zu verurteilen, sie entsprechend den arbeitsvertraglichen
Bedingungen als Verkäuferin mit Kassentätigkeit zu beschäftigen.
12 Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat geltend gemacht, es bestehe der
dringende Verdacht, dass die Klägerin die im Kassenbüro hinterlegten Leergutbons für sich
verwendet habe. Dafür sprächen die in der Anhörung angeführten Tatsachen sowie der
Umstand, dass diese Bons bei einer unmittelbar nach dem Einkauf der Klägerin
durchgeführten Suche nicht mehr auffindbar gewesen seien. Es sei auch das mehrfach
geänderte Verteidigungsvorbringen der Klägerin zu berücksichtigen, das sich in keinem Punkt
als haltbar erwiesen habe. Damit sei das Vertrauen in die redliche Ausführung der
Arbeitsaufgaben durch die Klägerin unwiederbringlich zerstört. Das Arbeitsverhältnis sei auch
nicht unbelastet verlaufen. Sie habe die Klägerin im Jahr 2005 wegen ungebührlichen
Verhaltens gegenüber einem Arbeitskollegen abgemahnt. Außerdem habe die Klägerin, wie ihr
erst nachträglich bekannt geworden sei, am 22. November 2007 bei einem privaten Einkauf
einen Sondercoupon aus einem Bonussystem eingelöst, obwohl die Einkaufssumme den dafür
erforderlichen Betrag nicht erreicht habe. Derselbe Coupon sei dreimal „über die Kasse
gezogen“ worden. Dadurch seien der Klägerin zu Unrecht Punkte im Wert von 3,00 Euro
gutgeschrieben worden. Deren Behauptung, ihre Vorgesetzte habe sie zu einer derartigen
Manipulation - vergeblich - verleiten wollen, sei nicht plausibel; die Vorgesetzte habe an dem
betreffenden Tag - wie zuletzt unstreitig - nicht gearbeitet.
13
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der
Klägerin zurückgewiesen. Mit ihrer durch das Bundesarbeitsgericht zugelassenen Revision
verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe

14 Die Revision ist begründet. Die Vorinstanzen haben die Klage zu Unrecht abgewiesen. Das
Arbeitsverhältnis der Parteien ist weder durch die außerordentliche noch durch die ordentliche
Kündigung vom 22. Februar 2008 aufgelöst worden. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts war
deshalb aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Einer Zurückverweisung bedurfte es nicht. Die
Sache war nach dem festgestellten Sachverhältnis zur Endentscheidung reif (§ 563 Abs. 3
ZPO).
15 A. Die außerordentliche Kündigung ist unwirksam. Es fehlt an einem wichtigen Grund iSv.
§ 626 Abs. 1 BGB.
16 I. Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung
einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem
Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der
Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der
Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Das Gesetz kennt folglich keine „absoluten“
Kündigungsgründe. Vielmehr ist jeder Einzelfall gesondert zu beurteilen. Dafür ist zunächst zu
prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“, dh. typischerweise als
wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der weiteren Prüfung, ob dem Kündigenden die
Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des
Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile - jedenfalls bis zum Ablauf der
Kündigungsfrist - zumutbar ist oder nicht (st. Rspr., Senat 26. März 2009 - 2 AZR 953/07 -
Rn. 21 mwN, AP BGB § 626 Nr. 220; 27. April 2006 - 2 AZR 386/05 - Rn. 19, BAGE 118, 104).
17 II. Die Prüfung der Voraussetzungen des wichtigen Grundes ist in erster Linie Sache der
Tatsacheninstanzen. Dennoch geht es um Rechtsanwendung, nicht um
Tatsachenfeststellung. Die Würdigung des Berufungsgerichts wird in der Revisionsinstanz
darauf hin überprüft, ob es den anzuwendenden Rechtsbegriff in seiner allgemeinen Bedeutung
verkannt hat, ob es bei der Unterordnung des Sachverhalts unter die Rechtsnormen
Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt und ob es alle vernünftigerweise in
Betracht zu ziehenden Umstände widerspruchsfrei berücksichtigt hat (st. Rspr., Senat
27. November 2008 - 2 AZR 193/07 - Rn. 22, AP BGB § 626 Nr. 219; 6. September 2007
- 2 AZR 722/06 - Rn. 40, BAGE 124, 59).
18 III. Auch unter Beachtung eines in diesem Sinne eingeschränkten Maßstabs hält die
Würdigung des Landesarbeitsgerichts einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht stand. Zwar
liegt nach dem festgestellten Sachverhalt „an sich“ ein wichtiger Grund zur Kündigung vor.
Das Landesarbeitsgericht hat jedoch bei der vorzunehmenden Einzelfallprüfung und
Interessenabwägung nicht alle wesentlichen Gesichtspunkte einbezogen und zutreffend
abgewogen.
19 1. Entgegen der Auffassung der Revision ist die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts nicht
deshalb zu beanstanden, weil dieses seiner rechtlichen Würdigung die fragliche
Pflichtverletzung im Sinne einer erwiesenen Tat und nicht nur - wie die Beklagte selbst - einen
entsprechenden Verdacht zugrunde gelegt hat.
20 a) Das Landesarbeitsgericht ist vom Fund zweier Leergutbons am 12. Januar 2008 und deren
Aushändigung an die Klägerin durch den Marktleiter ausgegangen. Nach Beweisaufnahme hat
es zudem für wahr erachtet, dass die Klägerin die beiden zunächst im Kassenbüro abgelegten
Bons im Wert von 0,48 Euro und 0,82 Euro zu einem unbestimmten Zeitpunkt an sich nahm
und am 22. Januar 2008 bei einem Einkauf zu ihren Gunsten einlöste; dadurch ermäßigte sich
die Kaufsumme für sie um 1,30 Euro. Darin hat es ein vorsätzliches, pflichtwidriges Verhalten
der Klägerin erblickt.
21 b) An die vom Landesarbeitsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen ist der Senat
gemäß § 559 Abs. 2 ZPO gebunden. Die Klägerin hat - auch wenn sie vorsätzliches
Fehlverhalten weiterhin in Abrede stellt - von Angriffen gegen die Beweiswürdigung des
Landesarbeitsgerichts ausdrücklich abgesehen.
22 c) Einer Würdigung des Geschehens unter der Annahme, die Klägerin habe sich nachweislich
pflichtwidrig verhalten, steht nicht entgegen, dass die Beklagte sich zur Rechtfertigung der
Kündigung nur auf einen entsprechenden Verdacht berufen und den Betriebsrat auch nur zu
einer Verdachtskündigung angehört hat.
23 aa) Das Landesarbeitsgericht hat auf diese Weise nicht etwa Vortrag berücksichtigt, den die
Beklagte nicht gehalten hätte. Der Verdacht eines pflichtwidrigen Verhaltens stellt zwar
gegenüber dem Tatvorwurf einen eigenständigen Kündigungsgrund dar (st. Rspr., Senat
23. Juni 2009 - 2 AZR 474/07 - Rn. 55 mwN, AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung
Nr. 47 = EzA BGB 2002 § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 8). Beide Gründe stehen
jedoch nicht beziehungslos nebeneinander. Wird die Kündigung mit dem Verdacht
pflichtwidrigen Verhaltens begründet, steht indessen zur Überzeugung des Gerichts die
Pflichtwidrigkeit tatsächlich fest, lässt dies die materiell-rechtliche Wirksamkeit der Kündigung
unberührt. Maßgebend ist allein der objektive Sachverhalt, wie er sich dem Gericht nach
Parteivorbringen und ggf. Beweisaufnahme darstellt. Ergibt sich daraus nach tatrichterlicher
Würdigung das Vorliegen einer Pflichtwidrigkeit, ist das Gericht nicht gehindert, dies seiner
Entscheidung zugrunde zu legen. Es ist nicht erforderlich, dass der Arbeitgeber sich während
des Prozesses darauf berufen hat, er stütze die Kündigung auch auf die erwiesene Tat (Senat
23. Juni 2009 - 2 AZR 474/07 - aaO mwN).
24 bb) Der Umstand, dass der Betriebsrat ausschließlich zu einer beabsichtigten
Verdachtskündigung gehört wurde, steht dem nicht entgegen. Die gerichtliche
Berücksichtigung des Geschehens als erwiesene Tat setzt voraus, dass dem Betriebsrat
- ggf. im Rahmen zulässigen „Nachschiebens“ - diejenigen Umstände mitgeteilt worden sind,
welche nicht nur den Tatverdacht, sondern zur Überzeugung des Gerichts auch den
Tatvorwurf begründen (Senat 23. Juni 2009 - 2 AZR 474/07 - Rn. 59 mwN, AP BGB § 626
Verdacht strafbarer Handlung Nr. 47 = EzA BGB 2002 § 626 Verdacht strafbarer Handlung
Nr. 8). Bei dieser Sachlage ist dem Normzweck des § 102 Abs. 1 BetrVG auch durch eine
Anhörung nur zur Verdachtskündigung genüge getan. Dem Betriebsrat wird dadurch nichts
vorenthalten. Die Mitteilung des Arbeitgebers, einem Arbeitnehmer solle schon und allein
wegen des Verdachts einer pflichtwidrigen Handlung gekündigt werden, gibt ihm sogar weit
stärkeren Anlass für ein umfassendes Tätigwerden als eine Anhörung wegen einer als
erwiesen behaupteten Tat (Senat 3. April 1986 - 2 AZR 324/85 - zu II 1 c cc der Gründe, AP
BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 18 = EzA BetrVG 1972 § 102 Nr. 63;
KR/Fischermeier 9. Aufl. § 626 BGB Rn. 217). Diese Voraussetzungen sind im Streitfall erfüllt.
Das Landesarbeitsgericht hat seiner Entscheidung ausschließlich solche - aus seiner Sicht
bewiesene - Tatsachen zugrunde gelegt, die Gegenstand der Betriebsratsanhörung waren.
25 2. Der vom Landesarbeitsgericht festgestellte Sachverhalt ist „an sich“ als wichtiger Grund
iSv. § 626 Abs. 1 BGB geeignet. Zum Nachteil des Arbeitgebers begangene Eigentums- oder
Vermögensdelikte, aber auch nicht strafbare, ähnlich schwerwiegende Handlungen unmittelbar
gegen das Vermögen des Arbeitgebers kommen typischerweise - unabhängig vom Wert des
Tatobjekts und der Höhe eines eingetretenen Schadens - als Grund für eine außerordentliche
Kündigung in Betracht.
26 a) Begeht der Arbeitnehmer bei oder im Zusammenhang mit seiner Arbeit rechtswidrige und
vorsätzliche - ggf. strafbare - Handlungen unmittelbar gegen das Vermögen seines
Arbeitgebers, verletzt er zugleich in schwerwiegender Weise seine schuldrechtliche Pflicht zur
Rücksichtnahme (§ 241 Abs. 2 BGB) und missbraucht das in ihn gesetzte Vertrauen. Ein
solches Verhalten kann auch dann einen wichtigen Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB darstellen,
wenn die rechtswidrige Handlung Sachen von nur geringem Wert betrifft oder zu einem nur
geringfügigen, möglicherweise zu gar keinem Schaden geführt hat (Senat 13. Dezember 2007
- 2 AZR 537/06 - Rn. 16, 17, AP BGB § 626 Nr. 210 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 20; 12. August
1999 - 2 AZR 923/98 - zu II 2 b aa der Gründe, BAGE 92, 184; 17. Mai 1984 - 2 AZR 3/83 - zu
II 1 der Gründe, AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 14 = EzA BGB § 626 nF
Nr. 90).
27 b) An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest. Die entgegenstehende Ansicht, die
Pflichtverletzungen im Vermögensbereich bei Geringfügigkeit bereits aus dem
Anwendungsbereich des § 626 Abs. 1 BGB herausnehmen will (so LAG Köln 30. September
1999 - 5 Sa 872/99 - zu 2 der Gründe, NZA-RR 2001, 83; LAG Hamburg 8. Juli 1998 - 4 Sa
38/97 - zu II 3 a aa der Gründe, NZA-RR 1999, 469; ArbG Reutlingen 4. Juni 1996 - 1 Ca
73/96 - RzK I 6 d Nr. 12; Däubler Das Arbeitsrecht 2 12. Aufl. Rn. 1128; eingeschränkt
Gerhards BB 1996, 794, 796), überzeugt nicht. Ein Arbeitnehmer, der die Integrität von
Eigentum und Vermögen seines Arbeitgebers vorsätzlich und rechtswidrig verletzt, zeigt ein
Verhalten, das geeignet ist, die Zumutbarkeit seiner Weiterbeschäftigung in Frage zu stellen.
Die durch ein solches Verhalten ausgelöste „Erschütterung“ der für die Vertragsbeziehung
notwendigen Vertrauensgrundlage tritt unabhängig davon ein, welche konkreten
wirtschaftlichen Schäden mit ihm verbunden sind. Aus diesem Grund ist die Festlegung einer
nach dem Wert bestimmten Relevanzschwelle mit dem offen gestalteten Tatbestand des § 626
Abs. 1 BGB nicht zu vereinbaren. Sie würfe im Übrigen mannigfache Folgeprobleme auf - etwa
das einer exakten Wertberechnung, das der Folgen mehrfacher, für sich betrachtet
„irrelevanter“ Verstöße sowie das der Behandlung nur marginaler Grenzüberschreitungen -
und vermöchte schon deshalb einem angemessenen Interessenausgleich schwerlich zu
dienen.
28 c) Mit seiner Auffassung setzt sich der Senat nicht in Widerspruch zu der in § 248a StGB
getroffenen Wertung. Nach dieser Bestimmung werden Diebstahl und Unterschlagung
geringwertiger Sachen nur auf Antrag oder bei besonderem öffentlichem Interesse verfolgt. Der
Vorschrift liegt eine Einschätzung des Gesetzgebers darüber zugrunde, ab welcher Grenze
staatliche Sanktionen für Rechtsverstöße in diesem Bereich zwingend geboten sind. Ein
solcher Ansatz ist dem Schuldrecht fremd. Hier geht es um störungsfreien
Leistungsaustausch. Die Berechtigung einer verhaltensbedingten Kündigung ist nicht daran zu
messen, ob diese - vergleichbar einer staatlichen Maßnahme - als Sanktion für den fraglichen
Vertragsverstoß angemessen ist. Statt des Sanktions- gilt das Prognoseprinzip. Eine
verhaltensbedingte Kündigung ist gerechtfertigt, wenn eine störungsfreie Vertragserfüllung in
Zukunft nicht mehr zu erwarten steht, künftigen Pflichtverstößen demnach nur durch die
Beendigung der Vertragsbeziehung begegnet werden kann (st. Rspr., Senat 26. November
2009 - 2 AZR 751/08 - Rn. 10, AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 61 =
EzA BGB 2002 § 611 Abmahnung Nr. 5; 23. Juni 2009 - 2 AZR 103/08 - Rn. 32, AP KSchG
1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 59 = EzTöD 100 TVöD-AT § 34 Abs. 2
Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 17).
29 d) Ebenso wenig besteht ein Wertungswiderspruch zwischen der Auffassung des Senats und
der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Dieses erkennt zwar bei der
disziplinarrechtlichen Beurteilung vergleichbarer Dienstvergehen eines Beamten die
Geringwertigkeit der betroffenen Vermögensobjekte als Milderungsgrund an (BVerwG
13. Februar 2008 - 2 WD 9/07 - DÖV 2008, 1056; 24. November 1992 - 1 D 66/91 - zu 3 der
Gründe, BVerwGE 93, 314; bei kassenverwaltender Tätigkeit: BVerwG 11. November 2003
- 1 D 5/03 - zu 4 b der Gründe). Dies geschieht jedoch vor dem Hintergrund einer abgestuften
Reihe von disziplinarischen Reaktionsmöglichkeiten des Dienstherrn. Diese reichen von der
Anordnung einer Geldbuße (§ 7 BDG) über die Kürzung von Dienstbezügen (§ 8 BDG) und die
Zurückstufung (§ 9 BDG) bis zur Entfernung aus dem Dienst (§ 13 Abs. 2 BDG). Eine solche
Reaktionsbreite kennt das Arbeitsrecht nicht. Der Arbeitgeber könnte auf die „Entfernung aus
dem Dienst“ nicht zugunsten einer Kürzung der Vergütung verzichten. Wertungen, wie sie für
das in der Regel auf Lebenszeit angelegte, durch besondere Treue- und Fürsorgepflichten
geprägte Dienstverhältnis der Beamten und Soldaten getroffen werden, lassen sich deshalb
auf eine privatrechtliche Leistungsbeziehung regelmäßig nicht übertragen (Keiser JR 2010, 55,
57 ff.; Reuter NZA 2009, 594, 595).
30 e) Das Landesarbeitsgericht hat das Verhalten der Klägerin als „Vermögensdelikt“ zulasten der
Beklagten gewürdigt, hat aber offen gelassen, welchen straf- und/oder zivilrechtlichen
Deliktstatbestand es als erfüllt ansieht. Das ist im Ergebnis unschädlich. Das Verhalten der
Klägerin kommt auch dann als wichtiger Grund iSv. § 626 Abs. 1 BGB in Betracht, wenn es
- wie die Revision im Anschluss an Äußerungen in der Literatur (Hüpers Jura 2010, 52 ff.;
Schlösser HRRS 2009, 509 ff.) meint - nicht strafbar sein sollte, jedenfalls nicht im Sinne eines
Vermögensdelikts zum Nachteil der Beklagten. Für die kündigungsrechtliche Beurteilung ist
weder die strafrechtliche noch die sachenrechtliche Bewertung maßgebend. Entscheidend ist
der Verstoß gegen vertragliche Haupt- oder Nebenpflichten und der mit ihm verbundene
Vertrauensbruch (Senat 19. April 2007 - 2 AZR 78/06 - Rn. 28, AP BGB § 611 Direktionsrecht
Nr. 77 = EzTöD 100 TVöD-AT § 34 Abs. 2 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 8; 2. März 2006
- 2 AZR 53/05 - Rn. 29, AP BGB § 626 Krankheit Nr. 14 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 16;
21. April 2005 - 2 AZR 255/04 - zu B II 1 der Gründe, BAGE 114, 264; Preis AuR 2010, 242 f.).
Auch eine nicht strafbare, gleichwohl erhebliche Verletzung der sich aus dem Arbeitsverhältnis
ergebenden Pflichten kann deshalb ein wichtiger Grund iSv. § 626 Abs. 1 BGB sein. Das gilt
insbesondere in Fällen, in denen die Pflichtverletzung mit einem vorsätzlichen Verstoß gegen
eine den unmittelbaren Vermögensinteressen des Arbeitgebers dienende Weisung einhergeht
(KR/Fischermeier 9. Aufl. § 626 BGB Rn. 459).
31 f) Danach liegt eine erhebliche, die Schwelle zum wichtigen Grund überschreitende
Pflichtverletzung vor. Die Klägerin hat sich mit dem Einlösen der Leergutbons gegenüber der
Beklagten einen Vermögensvorteil verschafft, der ihr nicht zustand. Ihr Verhalten wiegt umso
schwerer, als sie eine konkrete Anordnung des Marktleiters zum Umgang mit den Bons
missachtet hat. Es kommt nicht darauf an, ob sie damit schon gegen ihre
Hauptleistungspflichten als Kassiererin oder gegen ihre Pflicht zur Rücksichtnahme aus § 241
Abs. 2 BGB verstoßen hat. In jedem Fall gehört die Pflicht zur einschränkungslosen Wahrung
der Vermögensinteressen der Beklagten zum Kernbereich ihrer Arbeitsaufgaben. Die Schwere
der Pflichtverletzung hängt von einer exakten Zuordnung nicht ab. Die Vorgabe des
Marktleiters, die Bons nach einer gewissen Zeit als „Fehlbons“ zu verbuchen, sollte
sicherstellen, dass die Beklagte insoweit nicht mehr in Anspruch genommen würde. Ob damit
den Interessen der Kunden ausreichend Rechnung getragen wurde, ist im Verhältnis der
Parteien ohne Bedeutung. Die Klägerin jedenfalls durfte die Bons nicht zum eigenen Vorteil
einlösen.
32 3. Die fristlose Kündigung ist bei Beachtung aller Umstände des vorliegenden Falls und nach
Abwägung der widerstreitenden Interessen gleichwohl nicht gerechtfertigt. Als Reaktion der
Beklagten auf das Fehlverhalten der Klägerin hätte eine Abmahnung ausgereicht. Dies vermag
der Senat selbst zu entscheiden.
33 a) Dem Berufungsgericht kommt bei der im Rahmen von § 626 Abs. 1 BGB vorzunehmenden
Interessenabwägung zwar ein Beurteilungsspielraum zu (Senat 11. Dezember 2003 - 2 AZR
36/03 - zu II 1 f der Gründe, AP BGB § 626 Nr. 179 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 5). Eine eigene
Abwägung durch das Revisionsgericht ist aber möglich, wenn die des Berufungsgerichts
fehlerhaft oder unvollständig ist und sämtliche relevanten Tatsachen feststehen (Senat 23. Juni
2009 - 2 AZR 103/08 - Rn. 36, AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 59 =
EzTöD 100 TVöD-AT § 34 Abs. 2 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 17; 12. Januar 2006
- 2 AZR 179/05 - Rn. 61, AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 54 = EzA
KSchG § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 68). Ein solcher Fall liegt hier vor.
34 b) Bei der Prüfung, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz
Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist
zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen
Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen
Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des
Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Die Umstände, anhand derer zu beurteilen ist,
ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung zumutbar ist oder nicht, lassen sich nicht
abschließend festlegen. Zu berücksichtigen sind aber regelmäßig das Gewicht und die
Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung - etwa im Hinblick auf das Maß eines durch sie
bewirkten Vertrauensverlusts und ihre wirtschaftlichen Folgen -, der Grad des Verschuldens
des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des
Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf (Senat 28. Januar 2010 - 2 AZR
1008/08 - Rn. 26 mwN, DB 2010, 1709; 10. November 2005 - 2 AZR 623/04 - Rn. 38 mwN, AP
BGB § 626 Nr. 196 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 11). Eine außerordentliche Kündigung kommt
nur in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen,
weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind (st. Rspr.,
Senat 19. April 2007 - 2 AZR 180/06 - Rn. 45, AP BGB § 174 Nr. 20 = EzTöD 100 TVöD-AT
§ 34 Abs. 2 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 7). Als mildere Reaktionen sind insbesondere
Abmahnung und ordentliche Kündigung anzusehen. Sie sind dann alternative
Gestaltungsmittel, wenn schon sie geeignet sind, den mit der außerordentlichen Kündigung
verfolgten Zweck - die Vermeidung des Risikos künftiger Störungen - zu erreichen
(KR/Fischermeier 9. Aufl. § 626 BGB Rn. 251 mwN).
35 c) Die Notwendigkeit der Prüfung, ob eine fristgerechte Kündigung als Reaktion ausgereicht
hätte, folgt schon aus dem Wortlaut des § 626 Abs. 1 BGB. Das Erfordernis weitergehend zu
prüfen, ob nicht schon eine Abmahnung ausreichend gewesen wäre, folgt aus dem
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (die Kündigung als „ultima ratio“) und trägt zugleich dem
Prognoseprinzip bei der verhaltensbedingten Kündigung Rechnung (Senat 19. April 2007
- 2 AZR 180/06 - Rn. 47 f., AP BGB § 174 Nr. 20 = EzTöD 100 TVöD-AT § 34 Abs. 2
Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 7; 12. Januar 2006 - 2 AZR 179/05 - Rn. 55 mwN, AP
KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 54 = EzA KSchG § 1 Verhaltensbedingte
Kündigung Nr. 68). Das Erfordernis gilt auch bei Störungen im Vertrauensbereich. Es ist nicht
stets und von vorneherein ausgeschlossen, verlorenes Vertrauen durch künftige Vertragstreue
zurückzugewinnen (Senat 4. Juni 1997 - 2 AZR 526/96 - zu II 1 b der Gründe, BAGE 86, 95).
36 aa) Beruht die Vertragspflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist
grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung
von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann
(Schlachter NZA 2005, 433, 436). Die ordentliche wie die außerordentliche Kündigung wegen
einer Vertragspflichtverletzung setzen deshalb regelmäßig eine Abmahnung voraus. Sie dient
der Objektivierung der negativen Prognose (Senat 23. Juni 2009 - 2 AZR 283/08 - Rn. 14
mwN, AP KSchG 1969 § 1 Abmahnung Nr. 5 = EzA KSchG § 1 Verhaltensbedingte
Kündigung Nr. 75; Staudinger/Preis <2002> § 626 BGB Rn. 109). Ist der Arbeitnehmer
ordnungsgemäß abgemahnt worden und verletzt er dennoch seine arbeitsvertraglichen
Pflichten erneut, kann regelmäßig davon ausgegangen werden, es werde auch zukünftig zu
weiteren Vertragsstörungen kommen (Senat 13. Dezember 2007 - 2 AZR 818/06 - Rn. 38, AP
KSchG 1969 § 4 Nr. 64 = EzA KSchG § 4 nF Nr. 82).
37 bb) Nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist eine Kündigung nicht gerechtfertigt, wenn es
mildere Mittel gibt, eine Vertragsstörung zukünftig zu beseitigen. Dieser Aspekt hat durch die
Regelung des § 314 Abs. 2 BGB iVm. § 323 Abs. 2 BGB eine gesetzgeberische Bestätigung
erfahren (Senat 12. Januar 2006 - 2 AZR 179/05 - Rn. 56 mwN, AP KSchG 1969 § 1
Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 54 = EzA KSchG § 1 Verhaltensbedingte Kündigung
Nr. 68). Einer Abmahnung bedarf es in Ansehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
deshalb nur dann nicht, wenn eine Verhaltensänderung in Zukunft selbst nach Abmahnung
nicht zu erwarten steht oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass eine
Hinnahme durch den Arbeitgeber offensichtlich - auch für den Arbeitnehmer erkennbar -
ausgeschlossen ist (vgl. Senat 23. Juni 2009 - 2 AZR 103/08 - Rn. 33, AP KSchG 1969 § 1
Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 59 = EzTöD 100 TVöD-AT § 34 Abs. 2 Verhaltensbedingte
Kündigung Nr. 17; 19. April 2007 - 2 AZR 180/06 - Rn. 48 mwN, AP BGB § 174 Nr. 20 =
EzTöD 100 TVöD-AT § 34 Abs. 2 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 7).
38 cc) Diese Grundsätze gelten uneingeschränkt selbst bei Störungen des Vertrauensbereichs
durch Straftaten gegen Vermögen oder Eigentum des Arbeitgebers (Senat 23. Juni 2009
- 2 AZR 103/08 - Rn. 33, AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 59 = EzTöD
100 TVöD-AT § 34 Abs. 2 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 17; 27. April 2006 - 2 AZR
415/05 - Rn. 19, AP BGB § 626 Nr. 203 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 17). Auch in diesem
Bereich gibt es keine „absoluten“ Kündigungsgründe. Stets ist konkret zu prüfen, ob nicht
objektiv die Prognose berechtigt ist, der Arbeitnehmer werde sich jedenfalls nach einer
Abmahnung künftig wieder vertragstreu verhalten (vgl. auch Erman/Belling BGB 12. Aufl. § 626
Rn. 62; KR/Fischermeier 9. Aufl. § 626 BGB Rn. 264; Preis AuR 2010, 242, 244; Reichel AuR
2004, 252; Schlachter NZA 2005, 433, 437).
39 d) Danach war eine Abmahnung hier nicht entbehrlich.
40 aa) Das Landesarbeitsgericht geht zunächst zutreffend davon aus, dass es einer Abmahnung
nicht deshalb bedurfte, um bei der Klägerin die mögliche Annahme zu beseitigen, die Beklagte
könnte mit der eigennützigen Verwendung der Bons einverstanden sein. Einer mutmaßlichen
Einwilligung - die in anderen Fällen, etwa der Verwendung wertloser, als Abfall deklarierter
Gegenstände zum Eigenverbrauch oder zur Weitergabe an Hilfsbedürftige oder dem Aufladen
eines Mobiltelefons im Stromnetz des Arbeitgebers, naheliegend sein mag - stand im Streitfall
die Weisung des Filialleiters entgegen, die keine Zweifel über den von der Beklagten
gewünschten Umgang mit den Bons aufkommen ließ. Auf mögliche Unklarheiten in den
allgemeinen Anweisungen der Beklagten zur Behandlung von Fundsachen und Fundgeld
kommt es deshalb nicht an.
41 bb) Mit Recht hat das Landesarbeitsgericht zudem angenommen, das Verhalten der Klägerin
stelle eine objektiv schwerwiegende, das Vertrauensverhältnis der Parteien erheblich
belastende Pflichtverletzung dar.
42 (1) Mit der eigennützigen Verwendung der Leergutbons hat sich die Klägerin bewusst gegen
die Anordnung des Filialleiters gestellt. Schon dies ist geeignet, das Vertrauen der Beklagten in
die zuverlässige Erfüllung der ihr übertragenen Aufgaben als Kassiererin zu erschüttern.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Bons gerade ihr zur Verwahrung und ggf. Buchung als
„Fehlbons“ übergeben worden waren. Das Fehlverhalten der Klägerin berührt damit den
Kernbereich ihrer Arbeitsaufgaben. Sie war als Verkäuferin mit Kassentätigkeit beschäftigt. Als
solche hat sie den weisungsgemäßen Umgang mit Leergutbons gleichermaßen sicher zu
stellen wie den mit ihr anvertrautem Geld. Die Beklagte muss sich auf die Zuverlässigkeit und
Ehrlichkeit einer mit Kassentätigkeiten betrauten Arbeitnehmerin in besonderem Maße
verlassen dürfen. Sie muss davon ausgehen können, dass ihre Weisungen zum Umgang mit
Sach- und Vermögenswerten unabhängig von deren Wert und den jeweiligen
Eigentumsverhältnissen korrekt eingehalten werden. Als Einzelhandelsunternehmen ist die
Beklagte besonders anfällig dafür, in der Summe hohe Einbußen durch eine Vielzahl für sich
genommen geringfügiger Schädigungen zu erleiden. Verstößt eine Arbeitnehmerin, deren
originäre Aufgabe es ist, Einnahmen zu sichern und zu verbuchen, vorsätzlich und zur
persönlichen Bereicherung gegen eine Pflicht, die gerade dem Schutz des Eigentums und
Vermögens des Arbeitgebers oder eines Kunden dient, liegt darin regelmäßig ein erheblicher,
das Vertrauen in ihre Redlichkeit beeinträchtigender Vertragsverstoß.
43 (2) Der Einwand der Klägerin, ein Vertrauen auf Seiten der Beklagten bestehe ohnehin nicht,
wie die in den Märkten praktizierte Videoüberwachung zeige, geht fehl. Jeder Arbeitnehmer hat
die Pflicht, sich so zu verhalten, dass es um seinetwillen einer Kontrolle nicht bedürfte. Erweist
sich ein zunächst unspezifisches, nicht auf konkrete Personen bezogenes, generelles
„Misstrauen“ des Arbeitgebers schließlich im Hinblick auf einen bestimmten Mitarbeiter als
berechtigt, wird erst und nur dadurch das Vertrauen in dessen Redlichkeit tatsächlich
erschüttert.
44 cc) Auch wenn deshalb das Verhalten der Klägerin das Vertrauensverhältnis zur Beklagten
erheblich belastet hat, so hat das Landesarbeitsgericht doch den für die Klägerin sprechenden
Besonderheiten nicht hinreichend Rechnung getragen.
45 (1) Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Klägerin habe nicht damit rechnen können,
die Beklagte werde ihr Verhalten auch nur einmalig hinnehmen, ohne eine Kündigung
auszusprechen. Die Klägerin habe ihre Pflichten als Kassiererin „auf das Schwerste“ verletzt.
Mit dieser Würdigung ist es den Besonderheiten des Streitfalls nicht ausreichend gerecht
geworden. Die Klägerin hat an der Kasse in unmittelbarer Anwesenheit ihrer Vorgesetzten bei
einer nicht befreundeten Kollegin unabgezeichnete Leergutbons eingelöst. Dass sie mangels
Abzeichnung nach den betrieblichen Regelungen keinen Anspruch auf eine Gutschrift hatte,
war für die Kassenmitarbeiterin und die Vorgesetzte offenkundig und nicht zu übersehen. Das
wusste auch die Klägerin, die deshalb aus ihrer Sicht unweigerlich würde Aufmerksamkeit
erregen und Nachfragen auslösen müssen. Das zeigt, dass sie ihr Verhalten - fälschlich - als
notfalls tolerabel oder jedenfalls korrigierbar eingeschätzt haben mag und sich eines
gravierenden Unrechts offenbar nicht bewusst war. Für den Grad des Verschuldens und die
Möglichkeit einer Wiederherstellung des Vertrauens macht es objektiv einen Unterschied, ob
es sich bei einer Pflichtverletzung um ein Verhalten handelt, das insgesamt - wie etwa der
vermeintlich unbeobachtete Griff in die Kasse - auf Heimlichkeit angelegt ist oder nicht.
46 (2) Das Landesarbeitsgericht hat die Einmaligkeit der Pflichtverletzung und die als
beanstandungsfrei unterstellte Betriebszugehörigkeit der Klägerin von gut drei Jahrzehnten
zwar erwähnt, ihnen aber kein ausreichendes Gewicht beigemessen.
47 (a) Für die Zumutbarkeit der Weiterbeschäftigung kann es von erheblicher Bedeutung sein, ob
der Arbeitnehmer bereits geraume Zeit in einer Vertrauensstellung beschäftigt war, ohne
vergleichbare Pflichtverletzungen begangen zu haben. Das gilt auch bei Pflichtverstößen im
unmittelbaren Vermögensbereich (Senat 13. Dezember 1984 - 2 AZR 454/83 - zu III 3 a der
Gründe, AP BGB § 626 Nr. 81 = EzA BGB § 626 nF Nr. 94). Eine für lange Jahre ungestörte
Vertrauensbeziehung zweier Vertragspartner wird nicht notwendig schon durch eine
erstmalige Vertrauensenttäuschung vollständig und unwiederbringlich zerstört. Je länger eine
Vertragsbeziehung ungestört bestanden hat, desto eher kann die Prognose berechtigt sein,
dass der dadurch erarbeitete Vorrat an Vertrauen durch einen erstmaligen Vorfall nicht
vollständig aufgezehrt wird. Dabei kommt es nicht auf die subjektive Befindlichkeit und
Einschätzung des Arbeitgebers oder bestimmter für ihn handelnder Personen an.
Entscheidend ist ein objektiver Maßstab. Maßgeblich ist nicht, ob der Arbeitgeber
hinreichendes Vertrauen in den Arbeitnehmer tatsächlich noch hat. Maßgeblich ist, ob er es
aus der Sicht eines objektiven Betrachters haben müsste. Im Arbeitsverhältnis geht es nicht
um ein umfassendes wechselseitiges Vertrauen in die moralischen Qualitäten der je anderen
Vertragspartei. Es geht allein um die von einem objektiven Standpunkt aus zu beantwortende
Frage, ob mit einer korrekten Erfüllung der Vertragspflichten zu rechnen ist.
48 (b) Die Klägerin hat durch eine beanstandungsfreie Tätigkeit als Verkäuferin und Kassiererin
über dreißig Jahre hinweg Loyalität zur Beklagten gezeigt.
49 (aa) Der Senat hatte davon auszugehen, dass diese Zeit ohne rechtlich relevante
Beanstandungen verlaufen ist. Gegenstand einer der Klägerin erteilten Abmahnung war eine
vor Kunden abgegebene, abfällige Äußerung gegenüber einem Arbeitskollegen. Dieses
Verhalten steht mit dem Kündigungsvorwurf in keinerlei Zusammenhang; im Übrigen wurde die
Abmahnung ein Jahr später aus der Personalakte entfernt. Schon aus tatsächlichen Gründen
unbeachtlich ist das Geschehen im Zusammenhang mit der Einlösung eines Sondercoupons
im November 2007. Die Klägerin hat im Einzelnen und plausibel dargelegt, weshalb ihr dabei im
Ergebnis keine Bonuspunkte zugeschrieben worden seien, die ihr nicht zugestanden hätten.
Dem ist die Beklagte nicht hinreichend substantiiert entgegengetreten.
50 (bb) Das in dieser Beschäftigungszeit von der Klägerin erworbene Maß an Vertrauen in die
Korrektheit ihrer Aufgabenerfüllung und in die Achtung der Vermögensinteressen der
Beklagten schlägt hoch zu Buche. Angesichts des Umstands, dass nach zehn Tagen
Wartezeit mit einer Nachfrage der in Wahrheit berechtigten Kunden nach dem Verbleib von
Leergutbons über Cent-Beträge aller Erfahrung nach nicht mehr zu rechnen war, und der
wirtschaftlichen Geringfügigkeit eines der Beklagten entstandenen Nachteils ist es höher zu
bewerten als deren Wunsch, nur eine solche Mitarbeiterin weiterzubeschäftigen, die in jeder
Hinsicht und ausnahmslos ohne Fehl und Tadel ist. Dieser als solcher berechtigte Wunsch
macht der Beklagten die Weiterbeschäftigung der Klägerin trotz ihres Pflichtenverstoßes mit
Blick auf die bisherige Zusammenarbeit nicht unzumutbar. Objektiv ist das Vertrauen in die
Zuverlässigkeit der Klägerin nicht derart erschüttert, dass dessen vollständige
Wiederherstellung und ein künftig erneut störungsfreies Miteinander der Parteien nicht in Frage
käme.
51 (3) Das prozessuale Verteidigungsvorbringen der Klägerin steht dieser Würdigung nicht
entgegen.
52 (a) Die Wirksamkeit einer Kündigung ist grundsätzlich nach den objektiven Verhältnissen im
Zeitpunkt ihres Zugangs zu beurteilen. Dieser Zeitpunkt ist im Rahmen von § 626 Abs. 1 BGB
sowohl für die Prüfung des Kündigungsgrundes als auch für die Interessenabwägung
maßgebend. Umstände, die erst danach entstanden sind, können die bereits erklärte
Kündigung nicht rechtfertigen. Sie können allenfalls als Grundlage für eine weitere Kündigung
oder einen Auflösungsantrag nach §§ 9, 10 KSchG dienen (Senat 28. Oktober 1971 - 2 AZR
15/71 - zu II 2 d der Gründe, AP BGB § 626 Nr. 62 = EzA BGB § 626 nF Nr. 9; 15. Dezember
1955 - 2 AZR 228/54 - zu III der Gründe, BAGE 2, 245).
53 (b) Nachträglich eingetretene Umstände können nach der Rechtsprechung des Senats für die
gerichtliche Beurteilung allerdings insoweit von Bedeutung sein, wie sie die Vorgänge, die zur
Kündigung geführt haben, in einem neuen Licht erscheinen lassen (Senat 13. Oktober 1977
- 2 AZR 387/76 - zu III 3 d der Gründe, AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung
Nr. 1 = EzA BetrVG 1972 § 74 Nr. 3; 28. Oktober 1971 - 2 AZR 15/71 - zu II 2 d der Gründe,
AP BGB § 626 Nr. 62 = EzA BGB § 626 nF Nr. 9; 15. Dezember 1955 - 2 AZR 228/54 - zu III
der Gründe, BAGE 2, 245). Dazu müssen zwischen den neuen Vorgängen und den alten
Gründen so enge innere Beziehungen bestehen, dass jene nicht außer Acht gelassen werden
können, ohne dass ein einheitlicher Lebensvorgang zerrissen würde (Senat 15. Dezember
1955 - 2 AZR 228/54 - aaO; ErfK/Müller-Glöge 10. Aufl. § 626 Rn. 54; KR/Fischermeier 9. Aufl.
§ 626 BGB Rn. 177; SPV/Preis 10. Aufl. Rn. 551; vgl. auch Walker NZA 2009, 921, 922). Es
darf aber nicht etwa eine ursprünglich unbegründete Kündigung durch die Berücksichtigung
späteren Verhaltens rückwirkend zu einer begründeten werden (Senat 15. Dezember 1955
- 2 AZR 228/54 - aaO). Außerdem ist genau zu prüfen, welche konkreten Rückschlüsse auf
den Kündigungsgrund späteres Verhalten wirklich erlaubt. Im Hinblick auf prozessuales
Vorbringen (vgl. Senatsentscheidungen vom 24. November 2005 - 2 AZR 39/05 - AP BGB
§ 626 Nr. 197 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 12 und 3. Juli 2003 - 2 AZR 437/02 - AP BGB § 626
Verdacht strafbarer Handlung Nr. 38 = EzA KSchG § 1 Verdachtskündigung Nr. 2) gilt nichts
anderes.
54 (c) Danach kommt dem Prozessverhalten der Klägerin keine ihre Pflichtverletzung
verstärkende Bedeutung zu. Es ist nicht geeignet, den Kündigungssachverhalt als solchen zu
erhellen. Der besteht darin, dass die Klägerin unberechtigterweise ihr nicht gehörende
Leergutbons zweier Kunden zum eigenen Vorteil eingelöst hat.
55 (aa) Dieser Vorgang erscheint insbesondere im Hinblick auf eine Wiederholungsgefahr nicht
dadurch in einem anderen, für die Klägerin ungünstigeren Licht, dass diese zunächst die
Identität der von ihr eingelösten und der im Kassenbüro aufbewahrten Bons bestritten hat. Das
Gleiche gilt im Hinblick darauf, dass die Klägerin auch noch im Prozessverlauf die Möglichkeit
bestimmter Geschehensabläufe ins Spiel gebracht hat, die erklären könnten, weshalb sie - wie
sie stets behauptet hat - selbst bei Identität der Bons nicht wusste, dass sie ihr nicht
gehörende Bons einlöste. Die von der Klägerin aufgezeigten Möglichkeiten einschließlich der
einer gegen sie geführten Intrige mögen sich wegen der erforderlich gewordenen Befragungen
der betroffenen Arbeitnehmer nachteilig auf den Betriebsfrieden ausgewirkt haben. Dies war
aber nicht Kündigungsgrund. Unabhängig davon zielte das Verteidigungsvorbringen der
Klägerin erkennbar nicht darauf, Dritte einer konkreten Pflichtverletzung zu bezichtigen. Der
Kündigungsgrund wird auch nicht dadurch klarer, dass die Klägerin die Rechtsauffassung
vertreten hat, erstmalige Vermögensdelikte zulasten des Arbeitgebers könnten bei geringem
wirtschaftlichem Schaden eine außerordentliche Kündigung ohne vorausgegangene
Abmahnung nicht rechtfertigen. Damit hat sie lediglich in einer rechtlich umstrittenen Frage
einen für sie günstigen Standpunkt eingenommen. Daraus kann nicht abgeleitet werden, sie
werde sich künftig bei Gelegenheit in gleicher Weise vertragswidrig verhalten.
56 (bb) Das Prozessverhalten der Klägerin mindert ebenso wenig das bei der
Interessenabwägung zu berücksichtigende Maß des verbliebenen Vertrauens. Auch für
dessen Ermittlung ist auf den Zeitpunkt des Kündigungszugangs abzustellen. Aus dieser
Perspektive und im Hinblick auf den bis dahin verwirklichten Kündigungssachverhalt ist zu
fragen, ob mit der Wiederherstellung des Vertrauens in eine künftig korrekte Vertragserfüllung
gerechnet werden kann. In dieser Hinsicht ist das Verteidigungsvorbringen der Klägerin ohne
Aussagekraft. Ihr wechselnder Vortrag und beharrliches Leugnen einer vorsätzlichen
Pflichtwidrigkeit lassen keine Rückschlüsse auf ihre künftige Zuverlässigkeit als Kassiererin
zu. Das gilt gleichermaßen für mögliche, während des Prozesses aufgestellte Behauptungen
der Klägerin über eine ihr angeblich von der Kassenleiterin angetragene Manipulation im
Zusammenhang mit der Einlösung von Sondercoupons im November 2007 und mögliche
Äußerungen gegenüber Pressevertretern.
57 (cc) Anders als die Beklagte meint, wird dadurch nicht Verstößen gegen die prozessuale
Wahrheitspflicht „Tür und Tor geöffnet“. Im Fall eines bewusst wahrheitswidrigen Vorbringens
besteht die Möglichkeit, eine weitere Kündigung auszusprechen oder einen Auflösungsantrag
nach §§ 9, 10 KSchG anzubringen. Dabei kann nicht jeder unzutreffende Parteivortrag als
„Lüge“ bezeichnet werden. Die Wahrnehmung eines Geschehens ist generell nicht
unbeeinflusst vom äußeren und inneren Standpunkt des Wahrnehmenden. Gleiches gilt für
Erinnerung und Wiedergabe, zumal in einem von starker Polarität geprägten Verhältnis, wie es
zwischen Prozessparteien häufig besteht. Wenn sich das Gericht nach den Regeln des
Prozessrechts in §§ 138, 286 ZPO die - rechtlich bindende, aber um deswillen nicht der Gefahr
des Irrtums enthobene - Überzeugung bildet, ein bestimmter Sachverhalt habe sich so und
nicht anders zugetragen, ist damit die frühere, möglicherweise abweichende Darstellung einer
Partei nicht zugleich als gezielte Irreführung des Gerichts oder der Gegenpartei ausgewiesen.
Es bedarf vielmehr besonderer Anhaltspunkte, um einen solchen - schweren - Vorwurf zu
begründen.
58 B. Die hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung zum 30. September 2008 ist unwirksam. Auch
dies vermag der Senat selbst zu entscheiden. Die Kündigung ist sozial ungerechtfertigt. Sie ist
nicht durch Gründe im Verhalten der Klägerin iSv. § 1 Abs. 2 KSchG bedingt. Sie ist auf
denselben Lebenssachverhalt gestützt wie die außerordentliche Kündigung. Der Beklagten
war es aus den dargelegten Gründen zuzumuten, auf das mildere Mittel der Abmahnung
zurückzugreifen.
59
C. Der Antrag auf Beschäftigung, der sich ersichtlich auf die Dauer des
Kündigungsrechtsstreits beschränkte, kommt wegen der Beendigung des Verfahrens nicht
mehr zum Tragen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen